Das Tiroler Volksliedarchiv stellt sich vor
Das Tiroler Volksliedarchiv (TVA) ist eine zentrale Institution für Nord-, Ost und Südtirol, die für die Sammlung, Verwahrung, wissenschaftliche Dokumentation sowie verantwortungsvolle und uneigennützige Weitergabe all jener Materialien zuständig ist, die zum Bereich Volksmusik gehören. Die Bestände umfassen neben einer Vielzahl von Liedern verschiedenster Gattungen und Instrumentalmusik, der Intention der Gründer folgend, auch Volksreime und -dichtungen, Kinderreime, Kinderspiele und Volksschauspiele.
In wenigen Jahren kann das TVA den hundertsten Geburtstag feiern
Das TVA wurde 1905 gegründet. Erster Archivleiter war der Germanist Eduard Wackernell. Er initiierte damals das erste große Sammelunternehmen, das einen ersten Grundstock an Archivalien erbrachte. Wackernell animierte vor allem viele seiner Studenten zur aktiven Teilnahme an dieser Aktion. Den größten Erfolg erzielten jedoch heimatkundlich orientierte Privatsammler wie z.B. Leopold Pirkl aus Schwaz, der allein 1250 Lieder zur Verfügung stellte. Im Unterschied zu den meist musikalisch unkundigen Studenten, die vielfach gegen kleine finanzielle Entschädigung nur literarische Belege einbrachten, konnte Pirkl zumeist auch die dazugehörigen Melodien liefern. Das Projekt umschloss geographisch natürlich das gesamte Gebiet von Alttirol. Bis zum Jahr 1908 waren bereits 4000 Einsendungen aus ganz Tirol in das Archiv gelangt. Nach weiteren fünf Jahren hatte die stattliche Zahl von inzwischen 171 Sammlern bereits das zwanzigste Tausend an Belegen erreicht. Dieser engagierte Beginn fand durch äußere Umstände bedingt (Beginn des Ersten Weltkriegs, Zusammenbruch der Monarchie) leider keine entsprechende Fortsetzung.
Über Jahrzehnte keine hauptamtlich betreute Institution
Weiterhin wurde das Archiv ehrenamtlich betreut und im Lauf der Jahre vielfach umgesiedelt. Man hat damals dem TVA wohl nicht allzu große Bedeutung beigemessen und es zwischen verschiedenen Institutionen hin- und hergeschoben: Einmal waren die Bestände im Tiroler Landesarchiv untergebracht, ein andermal im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, dann wieder im Leuthaus des Stiftes Wilten und schließlich im Kulturgasthaus Bierstindl, wo das Archiv nun seine gegenwärtige Heimstatt gefunden hat. Die Schwerpunkte der Initiativen und Tätigkeiten waren naturgemäß sehr von den Interessen der jeweiligen Archivleiter geprägt. Auf Eduard Wackernell folgte der Historiker und Volkskundler Anton Dörrer, der den Quellenfundus vor allem für seine eigenen Forschungen nutzte. Der bedeutende Musikhistoriker Walter Senn war als kritischer und akribisch tätiger Wissenschaftler vor allem bemüht um eine sachgerechte Bestandserhebung, wobei seine Revision den Verlust von ungefähr der Hälfte aller Quellen aufzeigte. Ursache für diesen tristen Befund waren sowohl Kriegsverluste - das Archiv musste Ende 1943 nach Schwaz ausgelagert werden - als auch interne Unzulänglichkeiten.
Norbert Wallner betonte vor allem den pflegerischen Aspekt der Archivarbeit, während Karl Horak seine Hauptaufgabe in einer effizienten Erschließung der Archivalien mittels detaillierter Kataloge sah.
Intensive Feldforschungen
Unter Karl Horak wurde Manfred Schneider dem TVA als halbtags beschäftigte Arbeitskraft zur Verfügung gestellt. Im Zuge der von Karl Horak forcierten Katalogisierungsarbeit erkannte Schneider bald, dass im TVA nahezu keine Tondokumente vorhanden waren. Für eine auch wissenschaftlich orientierte Institution war dieser Mangel fundamental, denn Tondokumente sind vielfach die einzigen verlässlichen Quellen musikethnologischer Grundlagenforschung. Dieses Faktum und die Erfahrung im Rahmen seiner Feldforschungen in Osttirol in den Jahren 1982 bis 1984, die ein großartiges Ergebnis brachten, veranlassten Manfred Schneider, seine Sammelunternehmungen auch auf Südtirol auszudehnen und systematisch und konsequent durchzuführen. So wurden in den Jahren 1986 bis 1988 von Manfred Schneider in Südtirol zahlreiche zumeist mehrwöchige Sammelaktionen durchgeführt. Als Ergebnis erbrachte diese kontinuierliche Arbeit an die 20.000 Einzelbelege, die für das TVA neu eingebracht werden konnten, so Liedaufzeichnungen auf Tonband, aber auch eine große Anzahl an handschriftlichen Liederbüchern im Original oder in Kopie. Auch vielfältige Materialien zum Thema Musik und Brauch wurden in gewissenhaft durchgeführter Forschung erhoben, so im Ahrntal, Weitental und Pfunders, im gesamten Pustertal, in Teilen des Eisacktals, im Ultental, im kompletten Passeiertal, im Eggental und in Gebieten des obersten Vinschgaus. Dieser umfassende Bestand wird derzeit für die Benützung erschlossen. Alle Tondokumente der Sammlung Osttirol und Südtirol sind bereits auf ca. 300 Einzel-CDs überspielt, womit ein rascher Zugriff ebenso gewährleistet ist wie eine möglichst dauerhafte Konservierung.
Die sensationelle Entdeckung
Die Institution der bäuerlichen Kirchensinger war in Forscherkreisen bekannt, doch gab es keinen zuverlässigen Beleg für die Form der spezifischen Mehrstimmigkeit in der Überlieferung ihrer Lieder. Zumeist wurden die wenigen Liedquellen einstimmig wiedergegeben oder in Sätzen arrangiert, die nach dem Muster eines den Gesetzen der konventionellen Harmonielehre folgenden Schulsatzes geformt waren. Die Entdeckung der Kirchensinger in Mühlbach im Taufertal hat nun erstmals die Möglichkeit eröffnet, die Melodien der Kirchensinger, auch wenn sie nur einstimmig überliefert sind, intentional richtig und somit in weitgehend authentischer Mehrstimmigkeit zu realisieren. Der Chor der Mühlbacher Kirchensinger bringt diese spezielle Mehrstimmigkeit in idealtypischer Form. Zur Zeit der Aufnahmen im Jahr 1986 bestand der Chor aus fünf Mitwirkenden. Der Sopran, die sogenannte Vorstimm und der Alt, Sekund genannt, wurden von zwei Frauen gesungen. Die drei Männerstimmen dazu waren der für den Chor der Kirchensinger charakteristische Gråde, der Bariton oder Halbbass (in Mühlbach Tiefer Sekund) und der Bass. Da es zum Charakteristikum des Chors der Kirchensinger gehört, dass alle ihre Lieder für die verschiedenen Anlässe während des Kirchenjahrs ohne Noten mündlich überliefert werden, muss naturgemäß die Struktur des mehrstimmigen Satzes von prinzipieller Einfachheit sein, um diese mündliche Tradition zu ermöglichen: Die beiden Oberstimmen bilden eine konventionelle Zweistimmigkeit, deren Gesetzmäßigkeit sich vom Tenor, dem Gråden, herleitet, der ausschließlich am Dominantton festhält und nur im Subdominantbereich zur oberen oder unteren Nebennote ausweicht, damit nicht zu grobe Dissonanzen entstehen. Der Bass bringt die Grundtöne, so dass Akkordumkehrungen kaum vorkommen. Wie trotz dieser substanziellen Einfachheit harmonisch feinfühlige Gestaltungen möglich sind, die geradezu ans Artifizielle grenzen, mag das folgende Beispiel aus dem Repertoire der Mühlbacher Kirchensinger veranschaulichen.
Der Satz folgt dem oben beschriebenen Modell. Da der sog. Tiefe Sekund bei den Mühlbachern zumeist im Oktavabstand zum Sopran geführt ist, wird er hier nicht eigens notiert. Besonders bemerkenswert ist die Akkordfolge im dritten Takt. Auf dem dritten Schlag erscheint die Septime in den Außenstimmen verdoppelt, ein großes Vergehen gegen die akademische Harmonielehre, und wohl jeder gewissenhafte Volksliedpfleger würde diese Stelle so mildern, dass er den Bass um einen Ton erhöht, womit er zum Grundton des Dominantseptakkords wird. Wie gewöhnlich und blass diese harmonische Glättung im Vergleich zur griffigen herben, unvergleichlich ausdruckstärkeren Wendung bei den Mühlbacher Kirchensingern ist, wird jedem feinfühligen Musiker spontan offenkundig. Diese originelle harmonische Konstruktion, die sich bei den Mühlbacher Kirchensingern vielfach findet, ergibt sich aus einer folgerichtigen Befolgung der Prinzipien ihrer Mehrstimmigkeit: Sopran und Alt schreiten diasthematisch konsequent fort, während der Tenor als Gråder am Dominantton festhält. Der Bass bringt die Grundfunktionen, wobei der dritte Schlag im Takt drei nicht die Dominante, sondern funktional die Subdominante ausdrückt.
Mühlbacher Kirchensinger, 1986
Erfolgreiche Liedpräsentationen des TVA im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum
Die Entdeckung der speziellen Form der Mehrstimmigkeit der Mühlbacher Kirchensinger war der Schlüssel dafür, prinzipiell auch alle anderen Quellen aus dem spezifischen Repertoirebereich des sog. Geistlichen Liedguts mehrstimmig bearbeiten zu können. Daneben gab es durch die intensiven Feldforschungen einen enormen Zuwachs an vielfach beeindruckenden Liedquellen, und so entstand die Idee, diesen Fundus in Auswahl und völlig neuartiger Form der Aktion der Öffentlichkeit zu präsentieren. 1988 gestaltete Manfred Schneider sein erstes Tiroler Weihnachtssingen. Seine akustische Dramaturgie, die Weihnachtsgeschichte mit Liedern in unterschiedlicher Besetzung und abwechslungsreichen Klangfarben darzustellen, basierte ausschließlich auf dem überlieferten Quellenbestand der Kirchensinger; es wurde auch österreichweit vom ORF gesendet. In den folgenden Jahren wurden noch weitere fünf Tiroler Weihnachtssingen jeweils mit neuem Programm realisiert. Parallel zu diesem intentional neuartigen Konzept einer aktuellen Volksliedpflege wurde 1989 das Tiroler Passions- und Ostersingen initiiert und ebenfalls über mehrerer Jahre durch Aufführungen im Tiroler Landesmuseum als neue Form einer Liedpräsentation vorgesellt. Alle Konzerte wurden nachfolgend komplett auf CDs dokumentiert. Für die Aufführungen wurden zudem Notenhefte zusammengestellt, so dass für Interessenten besonders aus dem Bereich der Volksliedpflege neben der akustischen Vorstellung einer geschmackvollen und variantenreichen Gestaltungsmöglichkeit, die anhand der CDs erfahrbar wird, auch gleich Notenmaterial zu eigener Realisation zur Verfügung steht.
Das TVA bleibt Pionier der Volksliedforschung
Aufgrund des reichen und qualitätvollen Materialienbestandes und der vielfach innovativen Aktivitäten der letzten Jahre gehört das TVA auch international zu den wichtigen vergleichbaren Forschungsinstitutionen. Herausragend ist der Fundus im Bereich des geistlichen Liedes. Das TVA verwahrt im Original oder in Form von Kopien an die 400 geistliche Liederhandschriften vom 17. Jahrhundert bis in das frühe 20. Jahrhundert. Dieser Bestand ist aufgrund seines Umfang und seiner Kontinuität weltweit von einzigartiger Bedeutung. Vieles vom Repertoire der Flugblattliteratur vor allem des 18. Jahrhunderts ist auch überregional nur mehr über die handgeschrieben Liederbücher der Kirchensinger, wie sie sich im TVA in so großer Anzahl erhalten haben, zu ermitteln.
Einmalig und überregional ohne Vergleichsbeispiel ist auch das Projekt der Konservierung aller Tondokumente auf CDs und die Erschließung der umfangreichen Sammlung an Tondokumenten anhand detaillierter Kataloge. Derzeit sind verfügbar der stattliche Katalog Osttirol der Sammlung Manfred Schneider.
An der Katalogisierung der noch reichhaltigeren Sammlung Südtirol Manfred Schneiders wird seit Jahren gearbeitet; der Abschluss dieser Tätigkeiten steht bevor. Ebenfalls mittels CDs und Katalog zugänglich ist der gesamte Quellenfundus der wichtigen Sammlung Alfred Quellmalz, die der Forscher in den Kriegsjahren 1940/42 in Südtirol zusammengetragen hat. Der Plan, den kompletten Bestand in digitaler Form zu archivieren, wobei sich sowohl in der Konservierung wie auch in der Vermittlung völlig neue Möglichkeiten ergeben, ist sicherlich eine zukunftsweisende Pioniertat.
Das TVA ist natürlich auch eine effiziente Servicestelle
Das TVA ist aber vor allem auch eine Servicestelle für alle Interessenten im Bereich der Volksmusik. In unseren reichhaltigen Beständen finden sich für nahezu alle Anlässe qualitätvolle Materialien. Unsere Dienstleistung umfasst spezielle Einzelinteressen in Form von Anfragen ebenso wie die Mithilfe bei der Gestaltung ganzer Programmfolgen. Bei uns können Interessenten das Lieddokument ebenso erhalten wie diverse Auskünfte über die vielfältigen Möglichkeiten seiner sachgerechten Realisation. Zudem haben wir eine Reihe an Publikationen vorrätig, die weithin als Muster gelten, wie man Lieder zu einem organischen und geschmackvollen Zyklus zusammenstellen kann. Einen Überblick erhalten Interessenten via Internet: Volksliedarchiv. Anhand der Originale, die man vielfach über CDs bei uns hören kann, bekommt der Hörer einen Eindruck von der ursprünglichen Realisation und ein Gefühl und Anregungen für eine möglichst authentische Umsetzung.
Das TVA ist der wichtigste Teil des Vereins Tiroler Volksliedwerk, der von Dr. Manfred Schneider als Obmann und Archivleiter geführt wird, unterstützt von den Assistentinnen Mag.Dr. Sonja Ortner und Mag. Gerti Heintschel.
Der Verein organisiert und gestaltet Aktivitäten, wie diverse Veranstaltungen, Konzerte und CD-Produktionen. Der Verein nimmt die Kontaktpflege mit verwandten Institutionen wahr, insbesondere mit dem Verein"Österreichisches Volksliedwerk", der als Dachverband für alle Volksliedwerke der Bundesländer der Republik Österreich eingerichtet wurde.
Die Verwaltungsangelegenheiten des Tiroler Volksliedarchivs vor Ort, wie die Servicedienste, Betreuung und Erweiterung der Bibliothek, Katalogisierung und Archivierung des Bestandes werden von seit Februar 2007 von der Tiroler Landesmuseen-Betriebsgesellschaft ausgeführt. Wie im Gesellschaftsvertrag angeführt ist, fallen Werke aus der Arbeitstätigkeit des Tiroler Volksliedarchiv in das Eigentum des Landes Tirol. Der Verein Tiroler Volksliedarchiv nimmt treuhänderisch dieses Eigentum für das Land Tirol entgegen.
Vorstand des Vereins Tiroler Volksliedwerk
Präsidentin | ||
Obmann und Vorsitzender |
1. Obmann-Stellvertreter |
2. Obmann-Stellvertreterin |
Kassierin |
Kassier-Stellvertreter | |
Schriftführerin |
Schriftführer-Stellvertreterin |
Adresse:
Tiroler Volksliedarchiv/Tiroler Volksliedwerk
Tiroler Landesmuseen Betriebsgesellschaft m.b.H.
Museumstr. 15
A-6020 Innsbruck
T 0043/(0)512/59489-125
F 0043/(0)512/59489-127
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