Musikland Tirol

Im Jänner 1567 hielt Erzherzog Ferdinand II. in Innsbruck seinen feierlichen Einzug als Landesfürst von Tirol. In den folgenden Jahren seiner Regierung entfaltete er in Innsbruck eine prunkvolle Hofhaltung im Geiste der Renaissance. Der Fürst, selbst musisch begabt, war ein besonderer Liebhaber und Förderer der Künste. Seine Kunstleidenschaft übertraf bei weitem das übliche Maß, das dem Repräsentationsluxus einer Hofhaltung entsprach. Als Habsburgerfürst und Bruder des Kaisers war Ferdinand mit nahezu allen Herrscherhäusern Europas verwandt, ein Umstand, der zu regem kulturellem Austausch verhalf. Dieses internationale Flair zeigt sich besonders in der Herkunft der in Innsbruck tätigen Musiker, die aus aller Herren Länder stammten, neben Österreich aus Deutschland, Belgien, den Niederlanden, Frankreich, Holland, Italien, Polen und Spanien. Ebenso bunt und facettenreich war das damalige Musikleben. Musik war vielfach präsent und diente nicht nur dem Vergnügen, sondern hatte auch offiziellen Charakter bei Staatsaktionen, Reichstagen und ähnlichen repräsentativen Anlässen.

In diesen Bereich öffentlichen Erfordernisses fällt ebenso die Musica sacra, die einen besonders hervorgehobenen Stellenwert einnahm und demnach bei Hofe ausschließlich der elitären Institution Hofkapelle vorbehalten war. In der Hofkapelle waren vor allem die damals schon in ihrer Wertschätzung über die Instrumentalisten gestellten Sänger vereint; sie bildeten mit dem Hoforganisten den Grundbestand des Ensembles. Die Instrumentalisten, so Trompeter, Zinkenisten, Posaunisten, Gambisten, Lautenisten beherrschten durchwegs mehrere Instrumente und gehörten der unter eigener Leitung stehenden Hofmusik an. Bei feierlichen Ämtern musizierten Hofkapelle und Hofmusik gemeinsam, was ihrer Darbietung sowohl akustisch wie optisch besonders feierliches Gepräge verlieh.

Zur Zeit Erzherzog Ferdinands bestand die Innsbrucker Hofkapelle aus dem Ersten und Zweiten Kapellmeister, dem Hoforganisten, sechs bis acht Singknaben sowie je vier bis sechs Altisten, Tenoristen und Bassisten. Aber nicht nur die stattliche Anzahl der Sänger zeichnete diese nach historischen Berichten großartige Kapelle aus, sondern insbesondere der Umstand, dass viele ihrer Mitglieder auch Komponisten waren, deren Werke vielfach im Druck erschienen und so den ausgezeichneten Ruf der Innsbrucker Hofkapelle überregional noch vermehrten.

Von diesen durchwegs meisterlichen Könnern wie Georg Flori, Christian Hollander oder Franz Sales ragt besonders Alexander Utendal hervor. Er hat, wie er selbst in einem Schreiben an den Kurfürsten von Sachsen berichtet, von Jugend auf dem Hause Österreich gedienet, anfangs wohl in Brüssel in der Hofkapelle der Königin-Witwe Maria von Ungarn, einer Schwester Kaiser Ferdinands. Ab 1564 trat er in den Dienst Erzherzog Ferdinands, zuerst als Altsänger in dessen Prager Hofkapelle. Im Gefolge seines Herrn kam er nach Innsbruck und verblieb hier bis zu seinem Tod im Mai 1581. Vorerst wirkte er wie in Prag als Altist, 1572 wurde er zum Vizekapellmeister der Innsbrucker Hofkapelle ernannt. In den wenigen Jahren seiner Innsbrucker Tätigkeit hatte er diese Stellung erreicht, nicht zuletzt durch seine seit 1570 in Nürnberg gedruckten Sammlungen mit geistlichen Werken, die ihn bald international bekannt machten. Erzherzog Ferdinand schätzte Utendal sehr und schenkte ihm in Innsbruck ein Haus, um ihn noch mehr an Innsbruck zu binden. Utendal seinerseits zog die für einen Künstler seines Ranges idealen Bedingungen bei der Innsbrucker Hofkapelle und die Wertschätzung seines Herrn einer überaus ehrenvollen Berufung als kurfürstlich sächsischer Hofkapellmeister nach Dresden vor.

Als Vizehofkapellmeister oblag Utendal nicht nur die künstlerische und administrative Vertretung des Kapellmeisters, sondern auch die ausschließliche Obsorge für die Singknaben, die in seinem Haus untergebracht waren, die er zu unterrichten und zu versorgen hatte. Es wird berichtet, dass er die ihm anvertrauten Kapellknaben im Componiren und sonst in der Music teglich unterweiset habe. Zu den Knaben, die auf diese Weise Utendals Musikunterricht erhielten, gehörte auch der aus Hall i.T. stammende Blasius Amon (um 1560-1590), der schließlich als einer der größten Contrapunktisten jener Zeit gerühmt wurde.

Wie viele der damals besten Musiker stammte Utendal aus den Niederlanden. Aufgrund seiner Stellung in der Innsbrucker Hofkapelle hat er mit Ausnahme der überaus originellen, seinem Dienstherrn gewidmeten Sammlung Froeliche newe Teutsche vnnd Frantzoesische Lieder, Nürnberg 1574 (CD Klingende Kostbarkeiten aus Tirol 18 des Instituts für Tiroler Musikforschung Innsbruck) ausschließlich Kirchenmusik komponiert.

Im 16. Jahrhundert wurden Kompositionen meist in Form von Stimmbüchern und in oft Sammlungen veröffentlicht. Die Grundstimmen Cantus, Altus, Tenor und Bassus wurden in je einem Stimmbuch gedruckt; bei größer besetzten Werken kamen noch weitere Stimmbücher hinzu. In Innsbruck, dem Entstehungsort aller Kompositionen Utendals, hat sich primär von seinem Werk nichts erhalten und seine Musik wäre für immer verloren, wenn nicht die Drucke seiner Werke außerhalb ihres Ursprungsorts in europäischen Archiven verwahrt geblieben wären. Dass somit Utendals sakrales Schaffen wohl vollständig überliefert ist, stellt einen ungewöhnlichen Glücksfall dar, der wesentlich auf dem Umstand der einst weiten Verbreitung und Akzeptanz seiner Kompositionen beruht. Vollständige Drucke wie Fragmente finden sich in zahlreichen Bibliotheken und Archiven, z.B. in Österreich, Deutschland, Dänemark, Holland, Frankreich, Russland, Tschechien, Spanien oder England. Die Musiksammlung des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum hat in den letzten Jahren alle verstreut überlieferten Werke Utendals in Kopie erworben und so geschlossen an ihren Ursprungsort Innsbruck zurückgebracht. Über Auftrag des Instituts für Tiroler Musikforschung Innsbruck hat Thomas Engel den Gesamtbestand an Utendal-Drucken des 16. Jahrhunderts in moderne Notenschrift übertragen und Aufführungsmaterial erstellt. Damit sind jetzt verfügbar Utendals drei Motettensammlungen Sacrarum cantionum, Nürnberg 1571, 1573 und 1577 (Folgen 1-3) und der Druck Tres missae, Nürnberg 1573, der neben drei Messen auch ein Magnificat enthält. Utendals Erstlingswerk, seine großartigen Psalmvertonungen Septem psalmi poenitentiales, Nürnberg 1570, die er ebenfalls Erzherzog Ferdinand widmete, sind bereits 1985 in der Reihe Denkmäler der Tonkunst in Österreich im Neudruck erschienen.

Das Programm der TIROLER TAGE FÜR KIRCHENMUSIK 2002 bringt eine repräsentative Auswahl aus dem Gesamtwerk der von uns neu zugänglich gemachten Quellen. Im Mittelpunkt stehen die beiden sechsstimmigen Parodiemessen und zwei frühe Beispiele doppelchöriger Motettenkunst. Neben diesen überaus bemerkenswerten Beispielen für die beachtliche Leistungsfähigkeit der Innsbrucker Hofkapelle Erzherzog Ferdinands erweisen aber auch alle anderen präsentierten Werke Utendals herausragendes Talent. Wie selbst-verständlich ist er ein Meister der spätniederländischen Satzkunst in ihrer immer noch hochartifiziellen Polyphonie und Eleganz in der Linienführung der Stimmen. Wie sehr Utendal andererseits im Bannkreis der Zukunft steht, sind unüberhörbare Vorahnungen des bald schon die Musik dominierenden Stils der Monodie, der den polyphonen Satz gleichberechtigter Stimmen zurückdrängt, der Oberstimme den Vorzug einräumt und damit völlig neue Formen und Ausdrucksbereiche schafft. In Utendals modernem Werk gibt es schon vorrangig harmonisch empfundene expressive Abschnitte, dazu klangbetonende homophone Partien, nicht nur in den mehrchörigen Werken, die überhaupt zu den ganz frühen Beispielen ihrer Art zählen, sondern auch in vielen anderen Motetten und mitunter auch in den eher traditionell geformten Messen. Wie sehr Utendal zu den fortschrittlichen Meistern zu zählen ist, erweist etwa auch die Tatsache, dass er als einer der ersten Komponisten in tonaler Hinsicht völlig neuartige musiktheoretische Prinzipien der Musiklehrmeister Heinrich Glarean und Gioseffo Zarlino praktisch verwirklicht hat. Damit verhalf Utendal den nördlich der Alpen sonst eher zurückhaltend aufgenommenen neuen Grundsätzen zum Durchbruch, so dass sie in der Folge das Komponieren späterer Generationen entscheidend prägten.

Auch bezüglich der Aufführungspraxis ist Utendals Einstellung zukunftsorientiert. Im Titel seiner bewunderungswürdigen Motettensammlung Sacrae cantiones ..... liber secundus, Nürnberg 1573 (vollständig überliefert im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien) ist mit der Anmerkung tum omnis generis instrumentis ausdrücklich die Mitwirkung von Instrumenten vorgesehen. Wir kommen dieser Intention Utendals nach durch eine vielfältige Instrumentalbesetzung mit Zinken, Posaunen, Gamben, Blockflöten, Theorbe, Harfe, Orgel, alles Instrumente, die zur Zeit Erzherzog Ferdinands in der Innsbrucker Hofkapelle nachweislich zusammen erklungen sind. Dennoch ist es nicht unser Hauptanliegen, eine akribisch kaum nachvollziehbare, historisch minutiöse Aufführung zu realisieren, sondern dem heute noch eindrucksvollen und somit aktuellen Werk Utendals auch nach gegenwärtiger Sicht gerecht zu werden. Dazu gehört eine repräsentative Werkauswahl aus seinem Gesamtschaffen ebenso wie eine fantasievolle Gestaltung in der Mitwirkung der Instrumente, deren jeweiliger Einsatz vom Komponisten den Ausführenden überlassen ist. Dazu gehört ferner die Dokumentation dieser Konzerte für eine CD-Produktion, damit Utendals Musik als klingendes Denkmal aus der Glanzzeit der Tiroler Musikgeschichte vielseitig weiterwirken kann.

Manfred Schneider

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